Kibbutz - Das Ende
Ein stolzer Rückblick - Ein nüchterner Ausblick
von Ayala Gilad
Der Kibbutz ist ans Ende seines Weges gelangt. Diese Entwicklung ist nüchtern und realistisch zu betrachten, ohne Empfindungen von Versagen oder Tragik. Mit Stolz können wir auf unsere Vergangenheit blicken, aber unser Heute und unser Morgen sollten wir ganz nüchtern prüfen.
Schon länger als ein Jahrzehnt sind die meisten Kibbutzim von einer schweren ökonomischen und sozialen Krise geschüttelt. Dies hat uns in eine nicht minder ernste demographische Krise geführt, außerstande, uns aus ihrem Würgegriff zu befreien.
Die Betrachtung der juristischen und ökonomischen Fragen wie Aufteilung des Grundbesitzes, Anteilsberechnung der Aktiva oder Kalkulation von abgestuften Gehalts-Tabellen möchte ich anderen überlassen. Einzig die spirituellen und emotionalen Aspekte will ich hier beleuchten.
Die Gründerväter des Kibbutz hissten zwei Banner: Die Flagge der zionistischen Pioniere zu Besiedlung und Aufbau des Landes und das Banner sozialer Gerechtigkeit, Kooperation und Gleichheit. Es war einer jener wunderbaren Augenblicke, die sich im Verlauf der Geschichte ganz selten ereignen, wenn das Sehnen der Einzelnen mit nationalen Bestrebungen und Idealen verschmilzt und sie füllt mit universellem gesellschaftlichem Inhalt. Die Kibbutz-Gründer haben die wichtigen Prozesse, die ihre Generation durchlebte, klug gewürdigt, sie nahmen Anteil an ihnen und vollendeten sich selbst in deren Verwirklichung.
Zweierlei kann mit den Träumen der Menschen geschehen. Entweder werden sie wahr oder sie werden zerschmettert. Beides ist mit dem Kibbutz-Traum passiert. Der Aufbau dieses Landes innerhalb bestimmter Grenzen hat sich erfüllt. Doch der Traum, die Natur des Menschen zu verändern, wurde zerstört, wohl weil dies von vornherein nicht realistisch war.
Nach der Gründung des Staates wurde sein Grenzverlauf festgelegt. So wurde die Bedeutung der Siedlungen als der Faktor, der Land und Grenzen bestimmt und garantiert, nach und nach immer geringer. Heute ist Besiedlung das private Lehen der West Bank-Siedler.
Der zerschmetterte Traum bleibt Teil der Werte, auf denen der Kibbutz errichtet wurde und wie sie im Ehrenmal der Kibbutz-Bewegung nahe Degania mit knappen Worten in Stein gemeißelt sind: „Das Band von Brüderlichkeit, Zusammenarbeit und Gleichheit - In Arbeit, Besitz und Leben“. Der größere Teil dieser Werte hat der steinharten Realität nicht standgehalten. Mit den Jahren sind sie verkümmert, wurden verzerrt und verschmutzt; heute sind sie anachronistisch und irrelevant. Es wäre zwecklos, für ihre Fortgeltung zu kämpfen. Wahrhaftig, es war ein so schöner Traum - nun ist er vorbei!
Wir müssen schlicht und einfach zugeben, dass wir nicht im Stande waren, einen neuen Menschen zu schaffen, ja dass es unmöglich ist, die menschliche Natur zu verändern. Auch wir, die Mitglieder der Kibbutzim, sind menschliche Wesen und teilen all die Schwächen und Begehrlichkeiten der Menschheit. Wir sind ganz normale Sterbliche, die zu allererst interessiert sind an der eigenen Familie, am Gelderwerb und an einem hohen Lebensstandard. Und wir wollen im Stande sein, unseren Kindern etwas Eigenes zu vermachen. (Nein - ich kann ja kaum glauben, dass ich das geschrieben haben soll!)
Diejenigen, die die Kibbutz-Idee entwickelten, haben sie nicht bis zum Ende durchdacht. Sie war maßgeschneidert für die Bedürfnisse einer Gruppe sorgenfreier junger Leute, nicht aber für eine vielschichtige Gemeinschaft mehrer Generationen. Die ideologische Glut ist bei den Kindern und Enkeln der Gründer sowie bei den vielen, die nach und nach im Kibbutz ihr Zuhause fanden, längst abgekühlt. Die Mehrheit ist entweder wegen des bequemen und qualitätvollen Lebens im Kibbutz geblieben oder, weil man sich den höheren Lebensstandard ausserhalb ganz einfach nicht leisten kann.
Der Kibbutz ist weder ein göttlicher Imperativ noch auch das Wort Gottes an Moses auf dem Sinai! Sobald er für die Probleme der Menschen, die hier leben, keine adäquaten Lösungen mehr bietet und wenn die Mehrzahl seiner Kinder nicht mehr zu ihm zurück kehren, hat er seine historische Aufgabe erfüllt. Dann haben seine wesentlichen Werte nicht länger Güligkeit. Der Kibbutz ist an sein Ende gekommen. Das ist der Lauf der Welt!
Länger als ein Jahrzehnt hat mich diese Kibbutz-Erzählung nun schon schmerzlich gequält, lange habe ich sie erwogen und an ihr geschrieben. Aus meinem Innersten habe ich sie herausgerissen. Mein Weg, dem Kibbutzgedanken Ade´ zu sagen, war unendlich lang und qualvoll, steinig und voller Pein, zum verzweifeln traurig.
Und immer noch steh ich da, in Tränen und Verwunderung...
Heute habe ich die letzte Teilstrecke erreicht, meine Trauer zu verarbeiten. Heute schreibe ich das Schlusskapitel: „Kibbutz - Das Ende.“ Die Erzählung hat keine Gewinner oder Verlierer, keine Helden oder Schurken. Der Kibbutz hat einfach sein Leben erfüllt.
Heute kann ich ohne jede Einschränkung, ohne Furcht oder Verlegenheit und ohne die Wahrheit zu beschönigen, aufrichtig, klar, offen und zuversichtlich feststellen: „Der Kibbutz ist an sein Ende gelangt!“
Doch gerade deshalb spüre ich heute mehr denn je die Notwendigkeit und das Bedürfnis, die Summe zu ziehen aus meinem eigenen Kibbutzleben. Aus unserem Kibbutzleben. Ich will Inventur machen. Ich will Gewinn und Verlust bilanzieren und das Haus meiner Emotionen für ein Weiterleben in Ordnung bringen.
Ich fasse die Kibbutz-Vergangenheit zusammen und sage uns allen - den Gründern, die noch unter uns sind, ebenso wie ihren Kindern und Enkeln -: Welch ein Privileg, an einem so gewaltigen, historischen Unternehmen mitgewirkt zu haben!
Wir waren erfüllt vom Geist einer nationalen und sozialen Mission, die unserem Leben einen visionären Inhalt gab. Wir wussten, wie man mit Entbehrungen, mit materieller Einfachheit und körperlichen Beschwerden fertig wird. Wir lebten bescheiden und unter enormem sozialem Druck. Wir ertrugen Einsamkeit, Isolation und Angst in den entlegensten Siedlungen an Israels Grenzen. Materiell waren wir arm, aber reich an Taten und Werten. Der Yishuv, die jüdische Gemeinschaft vor der Staatsgründung, sah uns als Elite und zollte uns Respekt für all unsere freiwilligen Entbehrungen.
Im Zusammenhalt des Kibbutz war etwas Magisches: Das großartige Gefühl, Teil von etwas Wichtigem und Erhabenem zu sein, Teil einer Gemeinschaft, der du von dir gabst und die dich dafür spirituell und emotional reich machte.
Befrage ich mich nach den lebhaftesten und anrührendsten Erinnerungen meines Kibbutzlebens, nach dem, was ich am allermeisten geliebt habe, so steigen stets zwei Bilder in mir auf. Beide zeigen das besondere Gewicht der Kibbutz-Geselligkeit. Beide sind mir sehr kostbar, das erste aus der Kindheit in meinem Geburtsort Beit Zera, das zweite aus den frühen Jahren in Ein Gedi, wo ich mein Zuhause gefunden habe. Ich habe die wirbelnden Kreise der Hora-Tänzer vor Augen: Ohne Pfennig kamen wir / die Armen von gestern / haben dem Schicksal vertraut / mit den Millionen von morgen. Und die Gemeinschaft stimmt leidenschaftlich ein: Schau und sieh / wie groß ist der Tag! So ein Auftrieb für die Seele ist ohne jeden Vergleich, ist Teil unseres Privilegs, das uns niemand nehmen kann.
Heute möchte ich meinen Enkeln in die Augen sehen. Ihnen und der gesamten Generation, die vom Kibbutz nichts mehr kennt, will ich erzählen, daß wir, die Mitglieder der Kibbutzim, Anteil hatten an der Ehrfurcht gebietenden zionistischen Leistung von Geburt und Aufbau einer Nation. Daß wir stets bestrebt waren, die ersten und die besten zu sein, und daß wir dabei oft auch erfolgreich waren. Daß unsere Hände stets ausgestreckt waren, um zu geben, nicht um zu nehmen. Ich will ihnen erzählen, daß wir Teil eines der aufregendsten Experimente waren, das jemals von der Menschheit insgesamt und vom wiedergeborenen Staat Israel im Besonderen angepackt wurde. Es ist kaum vorstellbar, was aus diesem Land, aus seinen Werten und seinen Grenzen ohne die Kibbutz-Bewegung geworden wäre.
Aber jetzt, fast hundert Jahre nach der Gründung des ersten Kibbutz, erfährt das Leben im Kibbutz sehr weitreichende Veränderungen und nähert sich langsam seinem Ende. In wenigen Jahren wird die Mehrzahl der Kibbutzim zu normalen Gemeinschaftssiedlungen unterschiedlicher Art geworden sein. Dieser Prozess ist eine evolutionäre Enwicklung im Verlauf der Geschichte ohne Anzeichen von Misserfolg oder Tragik, die nüchtern und realistisch zu betrachten ist. Wir müssen die Tatsache, dass der Kibbutz an sein Ende gekommen ist, akzeptieren und haben die Periode des Übergangs zügig und weise, effizient und verantwortungsvoll zu gestalten, vor allem aber in fairem, kameradschaftlichem Geist.
Meine liebe Mutter, lieber Vater, euch und der ganzen Gründergeneration, die ihr nicht mehr bei uns seid und die ihr unserem Leben in diesem Land die Richtung gewiesen habt - in Degania und Kinneret, in Ayelet Hashachar, Ein Shemer und Beit Alpha -, euch will ich versichern, dass wir die Jahrhundertfeier der Kibbutzbewegung im Jahr 2010 stolz und mit erhobenem Haupt begehen werden. Wir werden mit Stolz auf die Vergangenheit zurückblicken und werden die Gewissheit, etwas für unser Land geleistet zu haben, als Frucht unseres Lebens entgegennehmen. Wir werden etwas Bleibendes hinterlassen, weil wir in Euere Fußstapfen getreten sind mit der Erfahrung jenes besonderen Geheimnisses von Zusammengehörigkeit, ohne das dies alles nicht möglich gewesen wäre. Ich will euch versprechen, dass wir dafür Sorge tragen, diese großartige Saga, genannt „Der Kibbutz“, in größtmöglicher Freundschaft abzuschließen.
Wenn es noch einmal sein wird, so lass es genau so sein!
Ich wurde geboren, ich wuchs heran, traf meine Wahl, ich heiratete, gebar, kam in die Jahre, ich wurde begraben - im Kibbutz. Kein anderer Platz für mich!
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Ayala Gilad, Kibbutz Ein Gedi 86980, ISRAEL
E mail: ayalagilad@gmail.com
Aus dem Hebräischen von Anthony Berris, August 2001
Aus dem Englischen von Wilderich F. v. Boeselager, April 2002
Erstmals veröffentlicht in „Hakibbutz", wöchentliche Mitteilungen der Kibbutz-Bewegung, 24. Mai 2001